Nachhaltigkeit als Bilanzposten

Bereits im März 1972 hat der gemeinnützige Club of Rome mit seiner viel beachteten Studie „Die Grenzen des Wachstums“ fünf Entwicklungen mit ihren globalen Wechselwirkungen untersucht und auf die negativen Folgen für den Planeten Erde hingewiesen: Industrialisierung, Bevölkerungswachstum, Unterernährung, Ausbeutung von Rohstoffreserven – insbesondere fossilen Ressourcen – und Zerstörung von Lebensraum.1 Seither ist die Aufmerksamkeit für Umweltschutz und Nachhaltigkeit in Politik und Gesellschaft immer weiter gestiegen, jedoch ohne die notwendige Trendumkehr im Sinne einer „echten“ Transformation einzuleiten. Ganz im Gegenteil: Der Ressourcenbedarf der globalisierten Weltwirtschaft steigt linear und ungebrochen, aktuelle Krisen und Konflikte verschärfen Versorgungsengpässe zusätzlich. Gestörte Lieferketten und ein erschwerter Zugang zu Rohstoffen, explodierende Energiepreise, die mittlerweile spürbar voranschreitende Klimakrise und soziale Disruption – die Rahmenbedingungen für Unternehmen sind aktuell alles andere als frei von Herausforderungen. Doch nicht allein die globalen Rahmenbedingungen setzen Unternehmen zu. Komplexe regulatorische Initiativen im Kontext nachhaltiger Unternehmensführung, synonym auch als Environmental (E), Social (S) und Governance (G) Management bezeichnet, erhöhen den Druck auf Unternehmen weiter. Doch ist das alles nur negativ und Grund genug, lieber gar nichts mehr zu tun? Oder bietet der massive Druck auch umfangreiche Chancen durch echte Transformation?

Nicht mehr nur „nice to have“: Nachhaltigkeit wird zum strategischen Erfolgsfaktor

Laut des Private Capital Pulse Surveys von BDO USA aus dem Frühjahr 2022 geben aktuell 94 Prozent der Fondsmanager an, dass sie das ESG-Potenzial der Zielunternehmen im Rahmen der Due-Diligence-Prüfung bewerten.2 Verbraucher, Arbeitnehmer und Investoren fordern mehr Transparenz über die Beschaffungswege und Herstellungsprozesse von Produkten. Betroffene aus Regionen der Rohstoffgewinnung berichten zum Beispiel von schwerwiegenden Menschenrechtsverletzungen oder bleibenden Umweltschäden und gehen damit immer öfter auch unabhängig vom Ort des Geschehens an die breite Öffentlichkeit. Kaufentscheidungen einer wachsenden Gruppe von Konsumenten konzentrieren sich zunehmend auf Unternehmen, die ethische Mindeststandards einhalten. Die Loyalität der Stakeholder sichert die „licence to operate“, die gesellschaftliche Akzeptanz von Unternehmen. Wird sie entzogen, leiden Einnahmen und Gewinnspannen. Das belegen auch „Greenwashing-Schlagzeilen“ aus der jüngeren Vergangenheit. In diesem Umfeld müssen Unternehmen also zwangsläufig sicherstellen, dass sie selbst und ihre Zulieferer die gewünschten ESG-Standards erfüllen – sowohl in Bezug auf Umweltauswirkungen, beispielsweise aus gefährlichen Abfällen resultierend, als auch bezogen auf Arbeits- und Menschenrechte.

Die Unternehmen müssen ihr Nachhaltigkeitsengagement kontinuierlich unter Beweis stellen, indem sie Produkte verkaufen, die unter Verwendung nachhaltiger Verfahren und Materialien hergestellt werden, entlang der gesamten Wertschöpfungskette ethische Arbeitsbedingungen sicherstellen und Maßnahmen ergreifen, die auf die Ziele zu Vielfalt, Gleichberechtigung und Integration innerhalb des Unternehmens einzahlen.

Neue Marktteilnehmer, die ESG in den Mittelpunkt ihres Geschäftsmodells und ihres Unternehmensleitbildes stellen, werden diesen Wandel beschleunigen. Denn sie bieten ihren Kunden die Möglichkeit, sich für Marken zu entscheiden, die diesen Erwartungen bereits entsprechen. In der Folge werden sie Standards für andere etablierte Marktakteure setzen.

Klimabedingte Wasserknappheit ist eine ernst zu nehmende Existenzbedrohung für Unternehmen

Nachhaltigkeit grafik 1In der Praxis zur Umsetzung nachhaltiger Unternehmensführung dominiert historisch die Dimension Umwelt und spezifisch die Diskussion um die klimaschädlichen Treibhausgas-Emissionen beziehungsweise den Klimawandel. Wie uns die aktuelle Diskussion um Energieverfügbarkeit und Einsparpotenziale in allen Ebenen unserer Gesellschaft zeigt, greift das zu kurz, denn mit den weiter ansteigenden (Flächen-)Verbräuchen von Industrie und Landwirtschaft sind – neben der Energiefrage – auch Themen wie Biodiversitätsverlust, Mikroplastik sowie Abfall- und Wassermanagement nicht mehr außer Acht zu lassen. Ein erneuter Hitzesommer wie 2022 hat neben der Versorgung von Menschen und Tieren mit Trinkwasser weitere Probleme unserer Zeit aufgezeigt, die unmittelbar mit der sich zunehmend verknappenden Ressource Wasser zusammenhängen: Sei es der Ausfall von Transportwegen aufgrund zu niedriger Flusspegel oder ein Engpass bei der Energieversorgung durch fehlendes Kühlwasser, das für den sicheren Betrieb von Atomkraftwerken in großen Mengen benötigt wird.

Der weltweite Wasserverbrauch hat sich in den letzten 100 Jahren versechsfacht und wächst mit der zunehmenden Bevölkerung stetig um etwa ein Prozent pro Jahr.3 Die OECD geht davon aus, dass der Wasserbedarf bis 2050 weltweit um 55 Prozent steigen wird. Dies ist vor allem auf die steigende Nachfrage in der verarbeitenden Industrie (+ 400 Prozent), der thermischen Stromerzeugung (+ 140 Prozent) und der häuslichen Nutzung (+ 130 Prozent)4 zurückzuführen.

Der größte Chip-Hersteller der Welt (TSMC) musste aufgrund von klimabedingter Wasserknappheit im Jahr 2021 rund eine halbe Milliarde Dollar an zusätzlichen Kosten für Wassertankwagen ausgeben, um den hohen Verbrauch der wasserintensiven Chipproduktion decken zu können. Andernfalls wäre es zu Produktionsausfällen gekommen, was verheerende Folgen für den Weltmarkt gehabt hätte, da es 2020 durch die Coronapandemie bereits einen Produktionsstillstand gab.5 Und auch hier werden die Kausalketten deutlich: Denn fehlendes Wasser, das zusätzlich von Tankwagen herbeigefahren werden muss, führt zu einem weiteren Ausstoß von klimaschädlichen Treibhausgasen. Somit eine klassische Lose-Lose-Situation.

Angesichts der vielschichtigen vulnerablen Punkte, die hinsichtlich eines potenziellen Wassermangels bestehen können, müssen diese auch Eingang ins klassische Risikomanagement finden. Szenarioanalysen, Stresstests und entsprechende Anpassungsmaßnahmen, um ein nachhaltiges und konstantes Wirtschaften zu ermöglichen, sind notwendig, um etwaigen Produktionsausfällen und möglichen hohen Kosten zuvorzukommen.

Nachhaltigkeit grafik 2Hinsichtlich der Lieferkettenproblematik bei niedrigen Wasserständen konnte der Chemiekonzern BASF 2022 einem Produktionsstopp wie 20186 durch extrem niedrige Pegelstände des Rheins entgehen. Es ist jedoch davon auszugehen, dass sich solche Szenarien in den kommenden Jahren wiederholen werden. Die von BASF geplante Entwicklung eines speziellen Frachtschiffs mit geringem Tiefgang beispielsweise soll trotz des drohenden Niedrigwassers des Rheins in den kommenden Sommern eine fortlaufende Lieferkette ermöglichen.7 Solche (mitunter kostenintensiven) Anpassungsmaßnahmen werden aufgrund der fortschreitenden Wasserverknappung erforderlich und sind daher nicht außer Acht zu lassen, um noch höheren finanziellen Schäden aus dem Weg zu gehen. Sie entfalten gegenüber den gängigen Geschäftsprozessen aber auch transformatorische Wirkung, um langfristiges – das heißt in diesem Fall nachhaltiges – Wirtschaften zu ermöglichen.

Um die strategischen Erfolgsfaktoren adäquat darzustellen, sich bei Kapitalgebern und gegenüber dem Wettbewerb positiv zu positionieren, gilt es, eine glaubwürdige, transparente Berichterstattung darüber aufzustellen, wie das Unternehmen ESG-Herausforderungen ganzheitlich bewältigt.

NFRD, CSRD, ESRS, LkSG, EU-Taxonomie: Steigende Regulatorik verspricht steigende Transparenz

Die bestehende EU Non-Financial Reporting Directive (NFRD) verpflichtet bereits seit 2014 bestimmte Unternehmen des öffentlichen Interesses (Public Interest Entities, PIEs), eine nichtfinanzielle Erklärung als Ergänzung der klassischen Finanzberichterstattung abzugeben. Im Rahmen der weiteren Ausgestaltung des ambitionierten Green-Deals der EU, der auf eine umfassende Transformation der europäischen Wirtschaft und „Netto-Null“-Treibhausgas-Emissionen bis zum Jahr 2050 abzielt8, veröffentlichte die EU-Kommission die überarbeitete Richtlinie zur Nachhaltigkeitsberichterstattung (Corporate Sustainability Reporting Directive, CSRD)9. Die Ausweitung des Adressatenkreises im Zuge des CSRD-Stufenplans hat zur Folge, dass künftig insbesondere große, nicht kapitalmarktorientierte Unternehmen zur Nachhaltigkeitsberichterstattung verpflichtet werden. Allein in Deutschland wird sich der Kreis berichtspflichtiger Unternehmen von bisher rund 500 auf nahezu 15.000 Unternehmen ausweiten. Erstmalig wird auch eine externe Prüfpflicht, zunächst mit begrenzter Sicherheit („limited assurance“) vorgeschrieben. Mit Hochdruck befasst sich aktuell die von der EU-Kommission beauftragte European Financial Reporting Advisory Group (EFRAG) mit der Entwicklung der European Sustainability Reporting Standards (ESRS)10, um Vorgaben für eine konkrete Ausgestaltung der Nachhaltigkeitsberichterstattung nach der CSRD zu liefern.

Das deutsche Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz (LkSG)11 verpflichtet Unternehmen zudem ab 2023 zur Steuerung und Berichterstattung im Kontext der Achtung von Menschenrechten entlang ihrer Lieferkette. Betroffen von diesen regulatorischen Maßnahmen ist auf den ersten Blick ein verhältnismäßig geringer Teil der deutschen Unternehmen: Im ersten Schritt ab 2023 sind „nur“ Unternehmen mit mehr als 3.000 Beschäftigten einbezogen. Allerdings müssen auch all jene Unternehmen, die als Zulieferer für die direkt betroffenen Unternehmen agieren, plötzlich entsprechend aufgestellt sein, um die erhöhten gesetzlichen Anforderungen ihrer Kunden mit Daten aus der Lieferkette zu unterstützen.

Nachhaltigkeit grafik 3Und auch im Kontext der „Sustainable Finance“ gibt es neben freiwilligen Empfehlungen zunehmend gesetzliche Regelungen. 2018 veröffentlichte die Europäische Kommission den „Aktionsplan: Finanzierung nachhaltigen Wachstums“12, welcher Ziele sowie Maßnahmen zur Gewährleistung eines nachhaltigen Wirtschaftswachstums enthält. Als wichtiges Werkzeug gilt seit dem 1. Januar 2022 die sogenannte EU-Taxonomie13, eine Verordnung, die nachhaltige Wirtschaftstätigkeiten festlegt und entsprechende Berichtspflichten vorsieht. Anhand bestimmter Kriterien können Investitionen und Aktivitäten als „grün“ klassifiziert werden. Ziele sind: die Förderung von Transparenz, die Vermeidung von „Greenwashing“ und die Umlenkung von Kapital in nachhaltige Wirtschaftsaktivitäten. In der EU-Taxonomie werden sechs Umweltziele definiert (Klimaschutz, Anpassung an den Klimawandel, nachhaltige Nutzung und Schutz von Wasser- und Meeresressourcen, Vermeidung und Verminderung der Umweltverschmutzung, Schutz und Wiederherstellung der Biodiversität und der Ökosysteme). Anhand technischer Bewertungskriterien (TBK) werden dann nachhaltige Aktivitäten für diese Ziele definiert und identifiziert. Ab dem 1. Januar 2023 – das heißt: für das Geschäftsjahr 2022 – müssen Unternehmen ermitteln, ob die zuvor als taxonomiefähig eingestuften Wirtschaftstätigkeiten auch taxonomiekonform sind, also den zugehörigen TBK entsprechen. Und damit schließt sich der Kreis zu den Berichtspflichten menschenrechtlicher Sorgfaltspflichten, die als „Minimum Safeguards“ ein wesentlicher Faktor zur Bewertung der Taxonomiekonformität sind.

Für Finanzunternehmen, die auf Daten aus der Realwirtschaft angewiesen sind, folgen die Anforderungen aus der Taxonomie ein Jahr später (2024), das heißt: für das Geschäftsjahr 2023. Die Berichtspflicht zur Taxonomie ist an die grundsätzliche Berichtspflicht gekoppelt – aktuell gültig für große kapitalmarktorientierte Unternehmen, zukünftig für einen deutlich größeren Kreis.

Ganzheitlicher Ansatz: Die Nachhaltigkeitsstrategie muss Teil der Gesamtunternehmensstrategie sein

In Anbetracht der dynamischen ESG-Regulatorik, die insbesondere für die vielen zukünftigen Erstberichterstatter eine große Herausforderung darstellt, gilt es, einen Fahrplan für die Nachhaltigkeitsintegration zu entwickeln. Wie wir bis hierhin gesehen haben, muss es das Ziel sein, den Aspekt nachhaltiger Unternehmensführung in alle Teilbereiche des unternehmerischen Handelns einzubinden. Denn kein Thema steht für sich isoliert, und auch die Themen, die heute noch nicht ganz oben auf der Agenda angekommen sind, können es morgen sein. Wer hätte vor zwölf Monaten gedacht, dass wir uns einer gesamtgesellschaftlichen Energiekrise gegenübersehen?

Nachhaltigkeit grafik 2

Für den umfassenden Angang bedarf es einer Nachhaltigkeitsstrategie, im besten Fall integriert in die Gesamtunternehmensstrategie. Um diese zu entwickeln, gilt es, als Erstes eine Wesentlichkeitsanalyse – auch Materialitätsanalyse genannt – durchzuführen.

Im Zuge der Materialitätsanalyse identifiziert das Unternehmen einerseits jene ESG-Themen, auf die es selbst die stärksten Auswirkungen hat (Inside-Out) und andererseits die Themen, die Einfluss auf das Geschäftsergebnis ausüben können (Outside-In). Im Analyseprozess sollten dabei die Perspektiven interner und externer „Schlüssel-Stakeholder“ berücksichtigt werden.

Es ergeben sich daraus nicht nur die wesentlichen Themen für die Berichterstattung, sondern vielmehr auch Ansatzpunkte für eine Integration von Nachhaltigkeit in Strategie, Steuerung sowie Risikomanagement (zum Beispiel auch Energie und Wasser) – ganz im Sinne einer zukunftsfähigen Aufstellung des Unternehmens.

Für ein ganzheitliches Nachhaltigkeitsmanagement und eine effektive Nachhaltigkeitssteuerung ist neben der Beachtung und Einhaltung der geltenden Regulatorik auch die Definition passender Ziele und KPIs notwendig. Eine solide Ausgangsbasis bilden Strukturen zur (möglichst automatisierten) Datenerhebung, um anschließend sinnvolle Leistungsindikatoren zu berechnen und deren Ergebnisse in den Steuerungsprozess einfließen zu lassen.

Die Implementierung von Kontrollen und einer geeigneten Prüfdokumentation sind notwendig, um die zukünftige Prüfungspflicht unter der CSRD abzusichern. Dieser Aspekt ist zudem mit Blick auf die Überwachungspflichten des Aufsichtsrats beziehungsweise Prüfungsausschusses von hoher Relevanz. Auditierbare Systeme und Prozesse sind notwendig, um einem externen Prüfer alle notwendigen Einblicke in die Inhalte und vor allem auch den Weg der Aufstellung des Berichts zu ermöglichen.

Die Prüfpflicht als Chance für einen langfristigen Unternehmenserfolg

Wird der Blick auf die anstehende Prüfpflicht für die Nachhaltigkeitsberichterstattung gelenkt, so kann auch diese initial als zusätzliche finanzielle sowie personelle Bürde betrachtet werden. Oder aber man kann die Prüfung in ihrer unterstützenden Funktion verstehen, Prozesse robuster aufzusetzen und Kontrollmechanismen zu etablieren beziehungsweise zu verbessern. Prüfung dient damit als „Sounding Board“ und entfaltet qualitätssichernde Mechanismen, damit die transformatorischen ESG-Themen den gleichen Stellenwert der Datenqualität und Verlässlichkeit erhalten, wie er für Finanzinformationen längst üblich ist. Denn auch Nachhaltigkeitsthemen haben eine klare Auswirkung auf das Finanzergebnis: sei es im Zusammenhang mit höheren Rohstoffpreisen in Bereichen wie Energie und Wasser, hohen Personalkosten, bedingt durch hohe Krankenstände und Fluktuation, oder Gewinnsteigerungen durch den besseren Absatz innovativer Lösungen.

„Business as usual“ reicht schon lange nicht mehr aus. Kunden wie auch die Gesellschaft im Allgemeinen sind für Nachhaltigkeitsthemen – ökologisch oder sozial – sehr sensibel geworden und verfügen über umfangreiche Informationen der Kausalzusammenhänge. In diesem Umfeld haben Unternehmen heute noch die Chance, innovative Best Practices zu entwickeln und mutig voranzugehen, um sich einen Wettbewerbsvorteil zu sichern, der zukünftig ein Mindeststandard für alle sein wird.

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